Chronik: 1930–1939
Was in unserem Dorf geschah:
Auch an Nieste gingen die Jahre der Rezession nicht vorbei. In den ersten drei Jahren des neuen Jahrzehnts sank das Haushaltsvolumen um fast 20.000 RM gegenüber dem Rechnungsjahr 1929/30. Alle Pläne für einen weiteren Ausbau unseres Dorfes mußten auf Eis gelegt werden. Diese Krisenjahre waren ein Kampf um Geld, mit dem man wenigstens die Versorgungseinrichtungen der Gemeinde mit halber Kraft am Laufen halten konnte. Die ausgesteuerten Arbeitslosen erhielten Wohlfahrtsunterstützung, die von der Gemeinde bezahlt werden mußte. Die Wohlfahrtsunterstützungsempfänger erhielten 9 RM pro Woche und 1,50 RM für jedes weitere Familienmitglied! Das hieß:
mit 13,50 RM mußte eine vierköpfige Familie eine Woche lang auskommen!
In Nieste wurden die Gehälter vom Bürgermeister und Gemeinderechner drastisch gekürzt.
Die Radikalisierung nahm in diesen Jahren stark zu. Alle größeren Parteien hatten ihre uniformierten Kampftruppen, die Sozialdemokraten das "Reichsbanner", die NSDAP ihre "SA und SS", die Kommunisten ihren "Rotfrontkämpferbund" und die Konservativen den "Stahlhelm" etc. Fast täglich wurden Menschen wegen ihrer politischen Überzeugung erschlagen, erstochen oder erschossen. Der Bürgerkrieg schien vor der Tür zu stehen.
Um den vielen Arbeitslosen eine neue Perspektive geben zu können gründeten sich freiwillige Arbeitsdienstgruppen. Man erhielt freie Unterkunft, freie Bekleidung, Verpflegung und ein kleines Taschengeld. Auch die Niester Gemeindevertretung beschloß 1932 eine solche freiwillige Arbeitsdienstgruppe zum Wegebau heranzuziehen.
Auf dem Höhepunkt der Krise wurde Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler berufen.
Welche Auswirkungen hatten nun diese Ereignisse auf unser Dorf? Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 erzielten die Sozialdemokraten noch gut zwei Drittel der abgegebenen Stimmen. Bei den Gemeindewahlen, die eine Woche später stattfanden, erhielt die SPD acht Mandate und die Liste der Nationalen Wählergemeinschaft vier Mandate.
Carl Kraft wurde am 23.3. in die Bürgersäle nach Kassel gebracht. Dort spielten sich böse Dinge ab; politische Gegner der Nazis wurden verhört, verprügelt und verschleppt. Carl Kraft wurde aufgefordert, als Bürgermeister freiwillig zurückzutreten. Er antwortete, er wäre von seiner Aufsichtsbehörde, dem Landrat, als Bürgermeister vereidigt und bestätigt und diesem daher auch nur verantwortlich. Er bliebe so lange auf seinem Posten, bis ihn seine vorgesetzte Dienstbehörde abberufe. Diese Abberufung kam bereits zwei Tage später, am 25.3.33.
Die neuen Machthaber hatten es nicht einfach in Nieste, allein zwei "Dorfschulze", so nannte man von nun an die Bürgermeister, wurden innerhalb kürzester Zeit verschlissen, bis man mit dem Landwirt Karl Kraft II den richtigen gefunden hatte. Unser Dorf war seit dem ersten Weltkrieg sozialdemokratisch verwaltet worden und sollte nun von jetzt auf gleich in eine andere Richtung gelenkt werden. Der Umwandlungsprozeß des deutschen Volkes ging bei uns zunächst schleppend voran.
Im März 1935 hatte Nieste die erste Einquartierung von Soldaten. Man weckte das Interesse für die neue Wehrmacht (die Aufrüstung war im vollen Gange) und versuchte die Jugend für das Soldatenleben zu begeistern. Viele ahnten nicht, daß es vier Jahre später bittere Realität werden würde. Im Juni 1937 wurde in unserem Dorf die erste Luftschutzübung durchgeführt. Man mußte nun eigentlich spüren, daß es langsam ernst wurde. Auch die vielen Sammelaktionen der Schule wiesen den Weg in den zweiten Weltkrieg. Man sammelte alles brauchbare und pflanzte sogar Maulbeerbäume für eine Seidenraupenzucht (zur Herstellung von Fallschirmseide). |
![]() Blick auf die Kirche (aufgenommen etwa 1936) |
Am 1. September 1939 begann in der Morgendämmerung mit dem Einmarsch in Polen der furchtbarste und schwerste aller Kriege, ein Völkermorden ohne Beispiel. In Nieste waren vor diesem Tag schon verschiedene Männer eingezogen worden. Viele Männer unseres Dorfes bekamen in den Tagen darauf ihre Gestellungsbefehle.
Der nach wenigen Wochen beendete Polenfeldzug brachte bei den Soldaten unseres Dorfes keine Opfer.
Was in Deutschland und der Welt geschah:
Am 12. Juni 1930 wird Max Schmeling Weltmeister im Schwergewicht nachdem sein Kontrahent Jack Sharkey disqualifiziert wurde. Im September des selben Jahres kommt es bei den Reichstagswahlen zu einem Rechtsrutsch. Die NSDAP gewinnt fast 100 Sitze hinzu.
Die Weltwirtschaftskrise des Jahres 1931 erreicht im Juli ihren Höhepunkt und führt zum vorübergehenden Zusammenbruch des deutschen und internationalen Zahlungsverkehrs. Die Arbeitslosenzahl nähert sich der vier Millionen Marke.
Am 10. April 1932 wird von Hindenburg im zweiten Wahlgang als Reichspräsident wiedergewählt und weist damit Hitler (der ebenfalls kandidierte) in die Schranken. Allerdings wird Hindenburg am 30. Januar 1933 Hitler zum Kanzler ernennen und damit den Weg ins dritte Reich frei machen. Bereits nach einem Monat im Amt nimmt Hitler den Reichstagsbrand (27. Februar 1933) zum Anlaß, eine Notverordnung in Kraft zu setzen, welche die sieben Artikel der Verfassung ausser Kraft setzt, die die persönlichen und bürgerlichen Freiheiten garantieren. Das Ende der Weimarer Republik zeichnet sich ab. Bei den am 5. März stattfindenden Wahlen zum Reichstag erhält die NSDAP 44,1 % der Stimmen. Hitler hat nun erstmals zusammen mit der Partei von Alfred Hugenberg eine Mehrheit im Reichstag (allerdings nur die einfache, nicht eine Zweidrittelmehrheit). Trotzdem gelingt es Hitler bis zur ersten Sitzung des neuen Reichstags am 21. März, mit Ausnahme der SPD, die anderen Parteien zur Zustimmung für sein erstes Gesetzesvorhaben zu bewegen. Die von der KPD gewonnenen Mandate werden einfach aberkannt. Ihre Träger sind entweder geflohen oder bereits verhaftet, wie Ernst Thälmann. Nur zwei Tage später wird über ein Gesetz abgestimmt, welches das Ende der Weimarer Demokratie, aber auch den Selbstmord aller Parteien ausser der NSDAP bedeutet. Einzig die Sozialdemokraten lehnen durch ihren Sprecher Otto Wels in einem flammendem Appell das sog. Ermächtigungsgesetz ab. Zu dieser Zeit befinden sich bereits 24 der SPD Mandatsträger in Haft. Alle verbliebenen SPD Abgeordnete stimmen mit nein. Das mit großer Mehrheit verabschiedete Gesetz ermächtigt die Reichsregierung unter Hitler für die Dauer von vier Jahren, Regierungsgeschäfte ohne das Parlament durchzuführen. Am 10. Mai 33 wird das Parteivermögen der SPD und des Reichsbanners beschlagnahmt.
Im Juni 1934 entledigt sich Hitler von einem seiner treuesten Gefolgsleute, Ernst Röhm. Nach dem sogenannten Röhmputsch werden Röhm und seine engen Vertrauten ermordet. Am 2. August des selben Jahres stirbt der Reichspräsident Paul von Hindenburg.
Am 19. Mai 1935 wird das erste Teilstück der Autobahn durch Hitler eröffnet.
Im Juli 1936 bricht der spanische Bürgerkrieg unter General Franco aus. Am 1. August 1936 eröffnet Hitler die Olympischen Sommerspiele in Berlin. Der englische König Eduard VIII. verzichtet am 10. Dezember 1936 auf den Thron um eine Bürgerliche zu heiraten.
Am 6. Mai 1937 explodiert in Lakehurst bei New York das deutsche Luftschiff "Hindenburg". Es sterben 34 Personen in dem Flammeninferno.
Im März 1938 marschiert Hitler in Österreich ein um es mit dem Deutschen Reich "wiederzuvereinigen". Am 30. Oktober des selben Jahres marschiert er auch ins Sudetenland ein. Der 9. November 38 geht als Reichskristallnacht in die Geschichte ein. In ganz Deutschland finden Judenpogrome statt. Es sterben 91 Juden; 29 jüdische Warenhäuser, 171 Wohnhäuser und 101 Synagogen werden zerstört oder abgebrannt.
Im März 1939 marschieren deutsche Truppen in Prag ein und noch halten die Westmächte still, doch nachdem Hitler am 1. September 39 Polen überfällt, ist es mit dem Frieden vorbei und der 2. Weltkrieg beginnt. Diesem Krieg werden in den kommenden sechs Jahren über 35 Millionen Menschen zum Opfer fallen.