Chronik: 1920–1929

Was in unserem Dorf geschah:

Am 26. März 1920 brannten in unserem Dorf erstmals die elek­trischen Lampen. Bei der Wahl zum Deutschen Reichstag im Juni 1920 ergab sich in unserer Gemeinde folgende Stimmenverteilung:

Sozialdemokratische Partei 261 Stimmen (69,9%)
Deutschnationale Partei 26 Stimmen (6,9%)
Deutsche Volkspartei 68 Stimmen (18,2%)
Demokratische Partei 12 Stimmen (3,2%)
Unabhängige 6 Stimmen (1,6%)

Das Wahlergebnis zeigt, daß man in unserem Dorf dem neuen Bürgermeister Carl Kraft und seinen Parteifreunden Vertrauen und Anerkennung entgegen brachte.

Land war in unserem Grenzdorf zwischen Hessen und Niedersachsen immer knapp, so daß die neue Gemeindevertretung einen Plan, der bereits während des Krieges in Verhandlung war, wieder aufnahm. Nach Gesprächen mit der preußischen Staatsregierung wurden von der Gemeinde Waldstücke südlich der Straße zum Sensenstein (die sog. Waldkoppeln) und das Fohlenkamp südlich des Forsthauses Rottebreite, insgesamt 29,3 ha, für 80.000 Mark erworben, und an 82 Bewerber in der Größe von 31 – 32 a verteilt. Die Erlöse des Stubbenholzes deckten fast sämtliche Kosten, die für den Erwerb, die Vermessung, die Aufteilung und den Wegebau entstanden waren. Die Erwerber hatten außer ihrer Rodearbeit somit fast keine Unkosten gehabt.

Die Gemeindeverwaltung hatte mit diesem Kauf und der Aufteilung den ärmeren Bewohnern unseres Dorfes einen Schutz für besondere Notzeiten verschafft.

Das Jahr 1923 wurde zu einer harten Bewährungsprobe für das deutsche Volk. Es war das Jahr der großen Inflation. Die Geldentwertung nahm innerhalb von drei Monaten kaum vorstellbare Ausmaße an. Viele Betriebe mußten Arbeiter entlassen. Auch Nieste hatte seine ersten 16 Arbeitslosen. Sie erhielten von der Gemeinde 150 Mark Unterstützung. Diese Zahlung war jedoch wertlos, da ein Brot bald zigtausend Mark kostete, als die Preise sich von einem auf den anderen Tag verdoppelten, als der Familienvater mit seiner Lohntüte im Laufschritt zum Kaufmann rennen mußte, um noch einen Teil seines Lohnes vor der galoppierenden Schwindsucht zu retten!   
Inflationsgeld der Stadt Kassel

Im Spätherbst gab es endlich eine neue Währung, nachdem die Menschen in wenigen Monaten gelernt hatten, mit Milliarden und Billionen von Mark in der Tasche zum Einkaufen zu gehen.

Ganz Deutschland atmete auf, obwohl die meisten Menschen ihr Vermögen verloren hatten und vollkommen von vorn anfangen mußten.

Das Jahr 1924 war ein Jahr der Wahlen. Am 4. Mai wurde die Wahl zum neuen Reichstag mit der Gemeindewahl verbunden.

Folgende Ergebnisse wurden in Nieste erzielt:

Reichstagswahl:

Sozialdemokratische Partei 267 Stimmen
Deutschnationale Partei 80 Stimmen
Deutsche Volkspartei 39 Stimmen
Deutsch Völkische Partei 6 Stimmen
Kommunistische Partei 1 Stimmen

Gemeindewahl:

Sozialdemokratische Partei 268 Stimmen
Bürgerliche Liste 134 Stimmen

Die SPD erhielt 8 Sitze und die "Bürgerlichen" 4 Sitze in der neuen Gemeindevertretung. Carl Kraft wurde erneut zum Bürgermeister gewählt; erster Beigeordneter wurde Jakob Riedemann, der erstmals für die Sozialdemokraten kandidierte.

Im Herbst des selben Jahres wurde der gewählte Reichstag wieder aufgelöst und die Neuwahlen wurden mit denen zum preußischen Landtag am 7. Dezember verbunden.

Sie brachten folgende Ergebnisse:

Reichstagswahl:

Sozialdemokratische Partei 285 Stimmen
Deutschnationale Partei 32 Stimmen
Deutsche Volkspartei 62 Stimmen
Demokratische Partei 9 Stimmen
Zentrum 1 Stimmen

Landtagswahl:

Sozialdemokratische Partei 285 Stimmen
Deutschnationale Partei 32 Stimmen
Deutsche Volkspartei 57 Stimmen
Demokratische Partei 10 Stimmen
Zentrum 1 Stimmen

 

Auf der Liste der SPD wurde Bürgermeister Carl Kraft an 9. Stelle in den preußischen Landtag gewählt. Damit erhielt er für seine kommunalpolitische Tätigkeit und seine Arbeit in seiner Partei die entsprechende Würdigung und Anerkennung seiner Parteifreunde.   
Carl Kraft I.,
der erste SPD Bürgermeister unserer Gemeinde

Außer den Wahlen geschahen auch noch andere Dinge in unserem Ort, zum Beispiel wurde im Herbst für die im letzten Kriegsjahr abgegebene Kirchenglocke eine neue beschafft und am 1. Weihnachtsfeiertag in einer Feierstunde geweiht.

Der Sommer und der Herbst des folgenden Jahres brachte unseren Landwirten und Kleinbauern große Sorgen. Es regnete fast während der ganzen Sommerzeit.

In den folgenden Jahren merkt man auch in Nieste den wirtschaftlichen Aufschwung. Dies wird auch am Gemeindehaushalt deutlich. Beliefen sich die Einnahmen in 1925 noch auf 53.546 Mark, konnten nur drei Jahre später 115.807 Mark verbucht werden. Im Rechnungsjahr 1929/30 werden schon die ersten Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise mit Einnahmen von nur noch 99.401 Mark deutlich.

Trotz kostspieliger Projekte, wie etwa die Erschließung von neuem Bauland, dem Ausbau der Ortsstraße oder die Verbesserung und Erweiterung des Stromnetzes, konnte die Gemeindeverwaltung in all den Jahren einen Jahresüberschuß erzielen.

Der Winter 1928/29 war extrem kalt. Die Temperaturen sanken im Februar '29 auf -26° Celsius. Die Wasserleitungen froren über Monate ein. Daraus resultierende Wasserrohrbrüche bereiteten schwere Schäden. In den Kellern erfroren die Kartoffeln und der Erdboden war über 1m tief hart gefroren. Die Eisdecke der Fulda in Kassel betrug bis zu 1,5 Meter. Dieser harte Winter schien die schweren Jahre anzukündigen, die unserem ganzem Land und der Welt bevorstanden.

Was in Deutschland und der Welt geschah:

Im März 1920 scheitert Wolfgang Kapp mit seinem Putschversuch, nachdem die Regierung die Bevölkerung zum Generalstreik aufgerufen hatte.

Am 6. Februar 1921 erscheint Charlie Chaplins erster abendfüllender Film "The Kid". Ebenfalls schwappt zu Beginn der 20er Jahre der Jazz über den großen Teich. Die Berliner Avus (Automobilverkehrs und Übungsstraße) wird am 19. September 1921 eingeweiht.

Am 24. Juni 1922 erschüttert ein politischer Mord die junge Republik. Reichsaußenminister Walter Rathenau wird auf der Fahrt von seinem Wohnsitz ins Auswärtige Amt von Angehörigen der Organisation Consul erschossen. Es war der 376. Politische Mord in Deutschland seit 1919.

Nur wenig später, am 2. August, beginnt für Deutschland die Zeit der Inflation. An der Börse explodiert der Dollarkurs.

In Nürnberg vereinigen sich am 24. September 1922 SPD und USPD.

Durch säumige Reparationszahlungen und Kohlelieferungen besetzen die Franzosen im Januar 1923 das Ruhrgebiet. Die Bevölkerung leistet, aufgefordert von der deutschen Regierung, größtenteils passiven Widerstand. Am 1. Mai scheitert Adolf Hitlers erster Putschversuch kläglich. Im September endet der Ruhrkampf, indem Stresemann den Abbruch des passiven Widerstands verkündet.

Auch der zweite Versuch Hitlers, im November zu Putschen, scheitert. Hierfür wird er im April des Folgejahres zu Festungshaft verurteilt.

Am 15. November 1923 endet in Deutschland die Inflation mit der Einführung der Rentenmark.

Der Revolutionär und Gründer der Sowjetunion Wladimir Iljitsch Lenin stirbt am 21. Januar 1924 nach einem Schlaganfall. Er wird nur 53 Jahre alt.

Auch unsere Republik verliert mit Friedrich Ebert ihren ersten Präsidenten. Er stirbt am 28. Februar im Alter von 54 Jahren an einer Bauchfellentzündung. Paul von Hindenburg wird am 26. April zu seinem Nachfolger gewählt.

Im Juli 1925 erscheint Hitlers "Mein Kampf", indem er das schildert, was er nur wenige Jahre später in aller Grausamkeit durchzusetzen versucht.

Durch den Vertrag von Locarno, welcher im Oktober 1925 ausgehandelt wurde, werden Sanktionsbestimmungen aufgelöst und die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund in Aussicht gestellt.

Charles A. Lindbergh überfliegt am 20. Mai 1927 als erster den Atlantik.

Im September 1928 entdeckt Alexander Fleming bei einer mikrobiologischen Routinearbeit das Penicillin.

Am 3. Oktober 1929 verliert die Republik Gustav Stresemann. Der Außenminister stirbt nach einem Schlaganfall. Er hatte sechs Jahre die Geschicke der deutschen Außenpolitik gelenkt und Deutschland wieder zu einem akzeptierten und geachteten Partner im Ausland gemacht.

Nur wenige Tage später, am 24. Oktober, beginnt die Weltwirtschaftskrise mit dem Börsencrash in New York.

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