Chronik: 1910–1919

Was in unserem Dorf geschah:

In wenigen Jahren gewann die SPD in Nieste an Ansehen und Stärke. Im Jahr 1912 errangen die Sozialdemokraten mit 81 gegen 78 Stim­men erstmals die Mehrheit im Gemeindeparlament. Diese Mehrheit wurde bis zum Jahre 1933 nicht mehr abgegeben.

Trotz der hohen Verschuldung bezahlt die Gemeinde 1912 den Um­bau der Kirchenorgel. Im März 1913 wird der Anschluß an das elek­trische Stromnetz grundsätzlich beschlossen. Im gleichen Jahr wird der Steuersatz nach kurzer geringfügiger Senkung wieder auf 200% festge­setzt und das Bürgermeistergehalt auf 550 Mark im Jahr erhöht.

Mit dem Beginn des ersten Weltkriegs am 2. August 1914 endet zu­nächst aller Fortschritt. Not, Hunger und Trauer ziehen auch in unsere Gemeinde ein. Aus unserem Dorf wurden 164 Männer einge­zogen, von denen 22 fielen. In der ersten Sitzung der Gemeinde­ver­tretung nach Kriegsausbruch wurden alle zum Kriegsdienst einge­zogenen Soldaten von der Gemeindesteuer befreit. Desweiteren be­kamen deren Ehefrauen sechs Mark und die Kinder je zwei Mark monatlich als Unterstützung ausgezahlt. Für diese Zuwendung mußte ein weiterer Kredit aufgenommen werden. Nach Streitereien mit der Aufsichtsbehörde wurde der Betrag im Januar 1915 auf fünf Mark pro Familie festgesetzt.

An den folgenden Beschlüssen der Gemeindevertretung können die laufenden Erhöhungen der Lebenshaltungskosten und die immer schwie­rigere Kriegslage abgelesen werden: Die Gemeindesteuern wurden im März 1915 auf 225% erhöht. Der Kredit zur Unterstützung der Familien wurde 1916 auf 6.000 Mark aufgestockt. Im selben Jahr mußten die Gemeindesteuern auf 300% angehoben werden. Im Feb­ruar 1917 wurden auf Anordnung der Kreisbehörde Höchstpreise für Fleisch, Wurst und Fette von der Gemeindevertretung festgesetzt.

Hier ein Auszug:

  • ½ kg Rindfleisch 2,10 Mark
  • ½ kg Schweinefleisch 2,10 Mark
  • ½ kg Leberwurst 2,00 Mark
  • ½ kg Schmalz 2,50 Mark

Im selben Jahr wurden die Gemeindesteuern auf 350% erhöht. Am 11. Juni 1917 erfolgte die Billigung des Stromlieferungsvertrages zwischen der Gemeinde Nieste und dem Kreis Münden. Der Aus­bau des Ortsnetzes erfolgte aber erst nach dem Ende des Krieges.

Durch die Rationierung der Lebensmittel erhielt der Bürgermeister zu­sätzliche Arbeit, die Ausgabe der Lebensmittelkarten. Ab 1.4.1917 er­hielt er für diese zusätzliche Arbeit 250 Mark im Jahr.

Im April 1918 wurde von der Gemeinde das sog. Orgelpfeifengeld in Höhe von 400 Mark für die achte Kriegsanleihe gezeichnet. Die Not war auf dem Höhepunkt angelangt und man sehnte sich nach Frieden. Der Steckrübenwinter 1917 war wohl für viele Menschen, die nicht eine kleine Landwirtschaft betrieben, die schwerste Belastungsprobe.

Das letzte Kriegsjahr brachte noch einmal ein letztes Aufbäumen gegen das Schicksal. Alles wurde eingesetzt, um des Hungers Herr zu werden. Aus den Städten kamen Pflegekinder auf die Dörfer, um sie einigermaßen zu ernähren. So waren in Nieste in den Sommerferien 1918 achtzehn Schulkinder aus Frankfurt am Main untergebracht.

Die Sammeltätigkeit nahm laufend zu und an dem was gesammelt wurde, können wir die Not die damals herrschte erkennen: im Früh­jahr 1918 wurde an drei Tagen Reisig gesammelt, das getrocknet und dann gemahlen das Heu für Militärpferde ersetzen sollte. Es mußten Gläser für Arzenei, Bucheckern zur Ölgewinnung und sogar Brennes­seln und Haare gesammelt werden.

Wenn man die sich jährlich steigenden Sammelaufträge an die Schü­ler unserer Dorfschule betrachtet, kann man darin den Verlauf des 1. Weltkrieges ablesen. Not und Unzufriedenheit steigerten sich von Jahr zu Jahr. So atmeten wohl die meisten Menschen auf, als das Ringen dieses Krieges zu Ende ging. Sicherlich war diese Niederlage schmerz­lich und viele Menschen konnten sich nur schwer mit dem Gedanken an diese Tatsache vertraut machen.

Der Zusammenbruch des alten Reiches und die Unruhe der Revolu­tion waren auch in unserem Dorf zu spüren. Der Zwiespalt zwischen den Menschen im Dorf, die noch am Alten hingen, und den Arbeitern und Kleinbauern, die nun auf gleiches Recht und eine bessere Zeit hof­ften, tat sich auf.

Die ersten Wahlen zur Nationalversammlung in Weimar und zum preußischen Landtag im Januar 1919 und die Wahl zur Gemeindever­tretung im März des selben Jahres erbrachte der SPD unter der Führung von Carl Kraft die Mehrheit der Stimmen in unserem Dorf. Es wurde zum ersten mal nicht nach dem preußischen Dreiklassen­wahlrecht, sondern nach dem Verhältniswahlrecht gewählt.

Bei der Wahl zur Gemeindevertretung waren zwei Vorschläge einge­gangen: 1. die Liste der Sozialdemokratischen Partei und 2. Eine Liste der "Bürgerlichen" Gemeindeglieder. Die SPD erhielt sieben und die "Bür­gerlichen" fünf Mandate. Für unsere Partei zogen damals Carl Kraft, Wilhelm Zinke, August Dräbing, Johannes Vetter, Johannes Käse, Wilhelm Riedemann und Heinrich Kruse in die Gemeindever­tretung ein. Im selben Jahr, am 15. September, wurde Carl Kraft zum ersten sozialdemokratischen Bürgermeister gewählt.

Die neugewählte Gemeindevertretung und der Bürgermeister haben nun die Aufgabe, den in 1914 unterbrochenen Weg der Fortentwick­lung unseres Dorfes wieder aufzunehmen. Zunächst wurde der An­schluß an das elektrische Stromnetz vollzogen, es wurde für 110.000 Mark von der Firma Landwehr & Schulz ausgebaut.

Was in Deutschland und der Welt geschah:

Im Februar 1910 wird eine Abkehr vom Dreiklassenwahlrecht ab­gelehnt. Am 20. November des selben Jahres stirbt der große rus­sische Dichter Leo Tolstoi. Am 18. Januar 1911 wird das Deutsche Kaiserreich 40 Jahre. Es entstand durch die Kaiserproklamation von Versailles. Etwa ein Jahr später, am 12.1.1912, wird die SPD stärkste Fraktion im Reichstag und gewinnt damit 67 Mandate hinzu. Durch diesen Sieg rücken die "bürgerlichen" Parteien mehr zusammen.

Am 15. April 1912 sinkt die Titanic und reißt 1513 Menschen in den Tod.

Am 13. August 1913 stirbt im schweizer Kurort Passugg der Führer der Sozialdemokraten, August Bebel

Das Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 ist die Vorstufe die zum ersten Weltkrieg führte. Dieser begann am 3. August des selben Jahres. In der deutschen Presse wurde verbreitet, daß die Franzosen die Grenzen zu Deutschland überschritten und das neutrale Belgien be­nutzten, um in Deutschland einzufallen. In Wirklichkeit verletzten die Deutschen die Neutralität Belgiens. Im April des Folgejahres setzen die Deutschen erstmals Giftgas als Kriegswaffe ein. Am 20. De­zember 1915 bittet der Fraktionsführer der SPD, Philipp Scheide­mann, den Reichskanzler um Auskunft, unter welchen Bedingungen er bereit sei, in Friedensverhandlungen einzutreten. Karl Liebknecht, der zum linken Flügel der SPD gehört, geht noch einen Schritt weiter, und verlangt die Vorlage der Dokumente über den Kriegsausbruch.

Am 21. Februar 1916 beginnt die Schlacht um Verdun und am 31.Mai findet die Seeschlacht im Skagerrak statt. Kaiser Franz Joseph I. von Österreich stirbt am 21. November 1916 im Alter von 84 Jahren.

Im März 1917 findet die sog. Februarrevolution in Rußland statt, die Zar Nikolaus II. zum Abdanken zwingt. Am 7. November des selben Jahres (nach russischem Kalender 26. Oktober) findet die Oktober­revolution statt und Rußland wird über Nacht kommunistisch.

Manfred Freiherr von Richthofen (der Rote Baron) fällt nach 80 er­folgreichen Lufteinsätzen am 21. April 1918. Im Juli wird der ehe­malige russische Zar und seine gesamte Familie von Bolschewisten ermordet.

Am 9. November 1918 beginnt in Deutschland die Revolution. Schei­demann ruft die Republik aus und Kaiser Wilhelm II. geht in hollän­disches Exil. Zwei Tage später wird der Waffenstillstand unterzeich­net.

In Weimar wird am 6. Februar 1919 die verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung eröffnet (deshalb der Name Weimarer Repu­blik). Zum ersten Reichspräsident wird Friedrich Ebert gewählt.

Fünf Jahre nach dem Attentat von Sarajevo unterzeichnen die Deutschen den Versailler Vertrag. Philipp Scheidemann tritt aus diesem Grund zurück, da er nicht als Reichskanzler diesen Vertrag unterzeichnen kann. Da die Alliierten aber mit der Wiederaufnahme des Krieges drohten, stimmte die Nationalversammlung dem Vertrag unter ihrem neuen Reichskanzler Gustav Bauer zu.

Am 31. Juli 1919 bekam Deutschland eine neue Verfassung, welche in fünfmonatiger Arbeit von einem Ausschuß unter der Leitung von Hugo Preuß und Max Weber verfasst worden war.

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